Der Begriff „Lernstörung“ wird sowohl in unserer Alltagssprache, als auch in der wissenschaftlichen Fachliteratur unterschiedlich beschrieben 1(vgl. Grube, 2008, zitiert nach Mähler & Grube, 2018, S.624). Häufig wird der Begriff „Lernstörung“ auch gleichbedeutend mit „Bezeichnungen wie Lernschwierigkeiten, Leistungsversagen, Lernschwäche und Lernbehinderung“ 2(Hasselhorn & Schuchardt, 2006, S. 208) verwendet. Diese uneinheitliche Begriffsdefinition und –verwendung hat zur Folge, dass unterschiedliche Angaben zur Auftretenshäufigkeit von Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen gemacht werden 3(Gold, 2015; Thomas et al., 2015).

Grundsätzlich sind Lernstörungen „Minderleistungen beim absichtsvollen Lernen“, wobei „die erwarteten Leistungsergebnisse […] trotz angemessener Lernangebote nicht erreicht (werden)“ 4(Lauth, Brunstein & Grünke, 2014, S. 17). Demnach meistern die betroffenen Schüler „grundlegende Lernziele des Schulunterrichts nicht“ und weisen „in zentralen Bereichen schulischer Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen) gravierende Leistungsrückstände“ 5(Brunstein, Lauth & Grünke, 2014, S. 103) auf.

Lernstörungen weisen eine vielfältige Symptomatik auf, wodurch ihre Erscheinungsbilder verschiedenartig sein können 6(Hammes-Schmitz, 2011; Ramus, 2004; Schulte-Körne, 2003). Dennoch stellen die verschiedenen Symptome die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale von Lernstörungen dar 7(BMBF, 2017). Aus Gründen der Übersicht und Kommunizierbarkeit ergab sich für Fachkräfte aus der Praxis und Wissenschaft die Notwendigkeit, Lernstörungen zu klassifizieren 8(Matthes, 2006).

Die Klassifikation von Lernstörungen erfolgt, der bisherigen medizinisch-psychiatrischen Tradition zufolge, größtenteils mittels Diagnosekategorien. Das kategoriale Diagnosesystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die sogenannte „Internationale Klassifikation psychischer Störungen“ in der zehnten Auflage (ICD-10) 9(WHO, 1992), deutsche Übersetzung: Dilling et al., 1993) fasst Lernstörungen unter dem Begriff „Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ zusammen. Unterkategorien dieser sind beispielsweise die Lese-Rechtschreibstörung (F81.0), die isolierte Rechtschreibstörung (F81.1), die Rechenstörung (F81.2), und kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (F81.3) 10(vgl. Matthes, 2006). Definiert wird die Lernstörung über „das Vorliegen (erwartungswidriger) Minderleistungen im Bereich des Lesens, des schriftlichen Ausdrucks (einschließlich der Rechtschreibung) und des Rechnens“ 11(Hasselhorn & Büttner, 2017, S. 66). Die schulischen Leistungen (Lesen, Rechtschreiben, Rechnen) sind also deutlich schlechter, als eigentlich – aufgrund des Alters, der bisherigen Beschulung und der allgemeinen Intelligenz der betroffenen Person – zu erwarten wäre 12(vgl. Hasselhorn & Büttner, 2017; Mähler & Grube, 2018).

Im deutschsprachigen Raum wird zur Diagnosestellung die ICD-10 bevorzugt, da sich dessen spezifischere Kategorien eindeutiger auf die einzelnen schulischen Leistungen beziehen 13(Mähler & Gruber, 2018). Auch das Rechtswesen der Bundesrepublik Deutschland bezieht sich auf das Diagnosesystem der ICD-10 14(Hasselhorn, 2021). Aktuell wird das Klassifikationssystem der WHO überarbeitet, es erscheint zeitnah auch für den deutschsprachigen Raum in der elften Fassung (ICD-11). Anders als in der Vorgängerversion soll in die ICD-11 auch die isolierte Lesestörung Eingang finden 15(BVL, 2018).

Weiterhin existieren in Deutschland die sogenannten S3-Leitlinien, die wissenschaftlich fundierte Vorgaben zur Diagnostik und Therapie von Lernstörungen bieten. Von verschiedenen Fachgesellschaften mit Vertreter*Innen aus der Medizin, Psychotherapie, Heilpädagogik etc. wurde eine S3-Leitlinie zur Rechenstörung 16(Schulte-Körne & Haberstroh, 2018) und zur Lese-Rechtschreibstörung 17(Schulte-Körne & Galuschka, 2015) ausgearbeitet. Aktuell wird die S3-Leitlinie zur Lese-Rechtschreibstörung überarbeitet, sie wird voraussichtlich Ende 2022 veröffentlicht. Die Leitlinien enthalten nicht nur Empfehlungen zur diagnostischen und therapeutischen Vorgehensweise für Fachkräfte, sondern informieren auch Interessierte und Betroffene (z.B. Eltern, Lehrkräfte, Jugendliche mit Lernstörungen). Die S3-Leitlinien sollen zu einer adäquaten, den wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechenden, Diagnostik und Therapie von Lernstörungen und damit zu einer angemessenen Versorgung der betroffenen Kinder und Jugendlichen mit Lernstörungen beitragen.

Nachfolgend werden beispielhaft mögliche (!) Symptome genannt 18(Schulte-Körne & Galuschka, 2019; Küspert, 2017; BVL, 2020):

LESE-RECHTSCHREIBSTÖRUNG:

  • Probleme bei der Verbindung von Lauten zu Wörtern (z.B. Auslassen von Lauten)
  • niedrige Lesegeschwindigkeit
  • zögerndes, stockendes Vorlesen
  • fehlerhafte Betonung während des Vorlesens
  • Wiedergabe der Inhalte von Gelesenem unmöglich
  • Probleme bei der Verbindung von Lauten mit den dazugehörigen Buchstaben
  • Weglassen, Hinzufügen, Verwechseln von Buchstaben
  • hohe Anzahl an Rechtschreibfehlern (bei Diktaten/ Abschreiben)

RECHENSTÖRUNG:

  • Schwierigkeiten, Mengen und Zahlen zu vergleichen
  • Probleme beim Zählen, v.a. Rückwärtszählen, und Abzählen
  • mangelndes Verständnis für Rechenoperationen (Addition und Multiplikation, v.a. auch Subtraktion und Division)
  • Vertauschen von Rechenzeichen (+, -, x, : )
  • Probleme mit dem Lesen/ Schreiben mehrstelliger Zahlen (z.B. 573)
  • mangelndes Stellenwertverständnis (z.B. Zehnerübergang)
  • fehlendes mathematisches Faktenwissen (z.B. 1×1-Reihen, Rechengesetze)
  • zählendes Rechnen (mit Hilfe der Finger)

Literaturnachweis:

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2017): Entwicklungsförderung schulischer Fertigkeiten (ESF). Abgerufen am15.06.2019 von: http://www.esf-koordinierung.de/content/1-home/broschure-esf-2017cmyk-download.pdf

Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie (2018). Legasthenie – Ratgeber zum Thema Le-gasthenie – Erkennen und Verstehen. Bonn: bvl.

Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie (BVL) (2020). Begrifflichkeiten und Abgrenzung zur Lese-Rechtschreibschwäche. BVL-Legasthenie. https://www.bvl-legasthenie.de/legasthenie.html

Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F) – Klinisch-diagnostische Leitlinien (10. Auflage). Bern: Hans Huber.

Gold, A. (2015). Lernstörungen und –schwächen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, 18, 617-625.

Hammes-Schmitz, E. (2011). Bedingungsanalyse von Lernstörungen. Lern- und aufmerk-samkeitsgestörte Schüler – Bedingungsanalyse und Perspektiven für Interventionen. Dissertation. Universität zu Köln.

Hasselhorn, M. & Büttner, G. (2017). Lernstörungen. In U. Hartmann, M. Hasselhorn & A. Gold (Hrsg.), Entwicklungsverläufe verstehen – Kinder mit Bildungsrisiken wirksam fördern (S. 65-79). Stuttgart: Kohlhammer.

Hasselhorn, M. & Schuchardt, K. (2006). Epidemiologie Lernstörungen. Eine kritische Skiz-ze zur Epidemiologie. Kindheit und Entwicklung, 15 (4), 208-215.

Küspert, P. (2017). Wie Kinder besser Rechnen lernen. Neue Strategien gegen Dyskalkulie. München: Oberstebrink.

Lauth, G.W., Brunstein, J.C. & Grünke, M. (2014). Lernstörungen im Überblick: Arten, Klassifikation, Verbreitung und Erklärungsperspektiven. In G. W. Lauth, M. Grünke & J.C. Brunstein (Hrsg.), Interventionen bei Lernstörungen: Förderung, Training und Therapie in der Praxis (S. 17-31). Göttingen: Hogrefe.

Lauth, G.W., Grünke, M. & Brunstein, C. (2014). Vermittlung von Lernstrategien und selbstreguliertem Lernen. In G.W. Lauth, M. Grünke & J.C. Brunstein (Hrsg.), In-terventionen bei Lernstörungen: Förderung, Training und Therapie in der Praxis (S. 262-276). Göttingen: Hogrefe.

Matthes, G. (2006). Individuelle Lernförderung bei Lernstörungen. Potsdamer Studientexte – Sonderpädagogik 27. Potsdam: Universitätsverlag

Mähler, C. & Grube, D. (2018). Lernstörungen. In W. Schneider und U. Lindenberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie, 8. Auflage, (S. 623-636). Weinheim: Beltz.

Ramus, F. (2004). Neurobiology of dyslexia: A reinterpretation of the data. Trends in Neurosciences, 27(12), 720–726. https://doi.org/10.1016/j.tins.2004.10.004

Schulte-Körne, G. (2003). Neurobiologie und Genetik der Lese-Rechtschreibstörung

(Legasthenie). Kjp.Med.Uni-Muenchen. https://www.kjp.med.uni-muenchen.de/download/Ursachen3.pdf

Schulte-Körne, G. & Galuschka, K. (2015). Lese- und/oder Rechtschreibstörung bei Kindern und Jugendlichen, Diagnostik und Behandlung. AWMF (Hrsg.), S3-Leitlinie AWMF-Register-Nr. 028/044. Verfügbar unter www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-044.html

Schulte-Körne, G. & Galuschka, K. (2019). Lese-/Rechtschreibstörung (LRS). Göttingen:
Hogrefe.

Schulte-Körne, G. & Haberstroh, S. (2018). S3-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung. AWMF (Hrsg.), S3-Leitlinie AWMF-Register-Nr. 028/046. Verfügbar unter https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-046.html

Thomas, K., Schulte-Körne, G. & Hasselhorn, M. (2015). Stichwort – Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, 18, 431-451.

World Health Organization (1992). ICD-10 Classifications of Mental and Behavioural Disorder: Clinical Descriptions and Diagnostic Guidelines. Geneva: World Health Organisation. https://www.who.int/classifications/icd/en/bluebook.pdf

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