Lernstörungen zählen hierzulande zu den häufigsten Entwicklungsproblemen des Kindes- und Jugendalters 1(Hasselhorn & Schulte-Körne, 2015; Heine et al., 2012). Während der Grundschulzeit ist ca. jede/r dritte Schüler*In von „besonderen Lernschwierigkeiten beim Erwerb von Lesen, Rechtschreiben und Rechnen“ 2(Hasselhorn, 2021, S. 1) betroffen. Die diagnostischen Kriterien, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für das Vorliegen einer Lernstörung vorgibt, treffen auf „mindestens jedes achte Grundschulkind“ 3(Hasselhorn, 2021, S. 1, zitiert nach Fischbach et al., 2013) zu. In den vergangenen Jahren wurde ein stetiger Anstieg kindlicher Lernstörungen verzeichnet 4(Klein & Träbert, 2009), deren weite Verbreitung vielfach auch im Rahmen unseres Schulsystems gezeigt werden konnte 5(Fischbach et al., 2013; Lauth, Brunstein & Grünke, 2014; Thomas et al., 2015; Hasselhorn & Schulte-Körne, 2015).

Die Lese-Rechtschreibstörung gilt als diejenige Lernstörung, die im Kindes- und Jugendalter am häufigsten diagnostiziert wird 6(Mascheretti et al., 2017; Skeide, 2017; Steinhausen, 2019). Sie tritt häufig mit internalisierenden Störungen (z.B. Angststörungen, v.a. Versagens- und Schulängste, depressiven Störungen) und externalisierenden Störungen (z.B. Störungen des Sozialverhaltens, hyperkinetische Störungen) auf. Häufige Komorbiditäten stellen zudem die weiteren umschriebenen Entwicklungsstörungen (v.a. Rechenstörungen) dar 7(Bartl-Pokorny et al., 2011; Schulte-Körne & Galuschka, 2019). Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Jungen häufiger betroffen sind als Mädchen 8(Rutter et al., 2004; vgl. Flannery et al., 2000; Hasselhorn & Schuchardt, 2006).

Dagegen ist das Geschlechterverhältnis von Jungen und Mädchen mit Rechenstörung grundsätzlich ausgeglichen, auch wenn tendenziell Mädchen etwas häufiger betroffen sind9(Haberstroh & Schulte-Körne, 2019; Heine et al., 2012). Im Durchschnitt finden sich in jedem Klassenverband ein bis zwei Schüler*Innen mit einer Rechenstörung 10(Küspert, 2017). Rechenstörungen treten häufig gemeinsam mit der Lese-Rechtschreibstörung, Aufmerksamkeits- und psychischen Störungen, wie z.B. der Rechenangst, auf 11(Heine et al., 2012; Kaufmann & von Aster, 2014).


Literaturnachweis:


Bartl-Pokorny, K., Landerl, K., Einspieler, C., Enzinger, C., Gebauer, D., Fink, A., Zhang, D., Kozel, N., Kargl, R., Seither Preisler, A., Vollmann, R., & Marschik, P. (2011). Dyslexie und ihre neuronale Signatur. Klinische Neurophysiologie, 42(03), 166–171. https://doi.org/10.1055/s-0031-1285905

Fischbach, A., Schuchardt, K., Brandenburg, J., Klescewski, J., Balke-Melcher, C., Schmidt, C., Büttner, G., Grube, D., Mähler, C. & Hasselhorn, M. (2013). Prävalenz von Lern-schwächen und Lernstörungen: Zur Bedeutung der Diagnosekriterien. Lernen und Lernstörungen 2 (2), 65-76.

Flannery, K. A., Liederman, J., Daly, L., & Schultz, J. (2000). Male prevalence for reading disability is found in a large sample of Black and White children free from ascertainment bias. Journal of the International Neuropsychological Society, 6(4), 433–442. https://doi.org/10.1017/S1355617700644016

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Heine, A., Engl, V., Thaler, V. M., Fussenegger, B. & Jacobs, A.M. (2012).
Neuropsychologie von Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Göttingen: Hogrefe.

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Klein, J. & Träbert, D. (2009). Wenn es mit dem Lernen nicht klappt. Schluss mit Schulprob-lemen und Familienstress. Weinheim: Beltz.

Lauth, G.W., Brunstein, J.C. & Grünke, M. (2014). Lernstörungen im Überblick: Arten, Klassifikation, Verbreitung und Erklärungsperspektiven. In G. W. Lauth, M. Grünke & J.C. Brunstein (Hrsg.), Interventionen bei Lernstörungen: Förderung, Training und Therapie in der Praxis (S. 17-31). Göttingen: Hogrefe.

Mascheretti, S., De Luca, A., Trezzi, V., Peruzzo, D., Nordio, A., Marino, C., & Arrigoni, F. (2017). Neurogenetics of developmental dyslexia: From genes to behavior through brain neuroimaging and cognitive and sensorial mechanisms. Translational Psychiatry, 7(1), e987–e987. https://doi.org/10.1038/tp.2016.240

Rutter, M., Caspi, A., Fergusson, D., Horwood, L. J., Goodman, R., Maughan, B., Moffitt, T. E., Meltzer, H., & Carroll, J. (2004). Sex Differences in Developmental Reading Disability: New Findings From 4 Epidemiological Studies. JAMA, 291(16), 2007. https://doi.org/10.1001/jama.291.16.2007

Schulte-Körne, G. & Galuschka, K. (2019). Lese-/Rechtschreibstörung (LRS). Göttingen:
Hogrefe.

Skeide, M. (2017). MRT-basierte Bestimmung des Risikos für die Lese-Rechtschreibstörung im Vorschulalter. Klinische Neurophysiologie, 48(03), 164–167. https://doi.org/10.1055/s-0043-105960

Steinhausen, H.-C. (2019). Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Lehrbuch
der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie. München: Elsevier.

Thomas, K., Schulte-Körne, G. & Hasselhorn, M. (2015). Stichwort – Entwicklungsstörun-gen schulischer Fertigkeiten. Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, 18, 431-451.

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